We exist!

Redebeitrag von Chris Heer an der Demonstration vom 1. April 2023 zur Anerkennung nicht binärer Menschen

Liebe Enbies, liebe Trans-Geschwister, liebe Allies,

Ich, Chris Cripping, fellow Enby, bin unendlich dankbar, dass es Menschen gibt, die die Ressourcen hatten, eine solche Demonstration zu organisieren, damit wir hier gemeinsam ein Zeichen, gegen die systematische Unsichtbar-Machung unserer Existenz setzen können. Denn es kostet viel Energie sich immer und immer wieder zu wehren – es geht an die Substanz und ich persönlich musste mich Ende letztes Jahr, nach dem vernichtenden Bericht des Bundesrates, zuerst einmal nur auf mein Überleben konzentrieren. Daher möchte ich als erstes, den Organisator*innen dieser Demonstration ein riesiges Dankeschön aussprechen für ihren Einsatz! – Applaus!

Immer wieder, wenn ich hörte oder las, dass jemand «seiner Zeit voraus» gewesen sei, dachte ich: «Wow, so cool, wenn Menschen ihrer Zeit voraus sind». Erst vor circa zwei Jahren wurde mir bewusst, dass dies überhaupt nicht «cool» ist, sondern im Gegenteil super anstrengend und frustrierend. Sind wir als non binäre Personen wirklich «unserer Zeit voraus» oder ist die Gesellschaft, in der wir leben schlichtweg «nicht zeitgemäss», wenn sie uns nicht als Teil von ihr sieht?
Menschen, welche sich diesem konstruierten binären Geschlechtersystem nicht zugehörig fühlten, gab es schon immer. Wir bezeichneten uns anders, vielleicht als «Lesbe» oder «Dyke», als «Schwul» oder «Gay», ich z.B. v.a. auch als «behindert» und meinten damit auch, dass wir nicht dem gängigen Rollenbild entsprechen, was uns die Gesellschaft zuschrieb, nur weil wir entweder mit Penis oder Vulva geboren wurden.

Ich darf heute im Namen von TGNS diesen Raum für eine Rede einnehmen und möchte daher kurz mit euch teilen, welche Aktionen diese Organisation bereits für uns gemacht hat und wo wir heute stehen:

TGNS begleitet den ersten Fall in der Schweiz zur Anerkennung der Streichung des Geschlechtseintrags in Personalausweisen. Ein Fall, der daher politisch und für andere Fälle zukunftsweisend sein wird. Es handelt sich um eine non binäre Person mit Schweizer Staatsangehörigkeit, die Wohnsitz in Deutschland hat und daher nach deutschem Recht den Geschlechtseintrag in ihren persönlichen Dokumenten streichen liess. Der Fall ist momentan vor Bundesgericht hängig, wobei das Obergericht des Kantons Aargau eine Anerkennung des gestrichenen deutschen Geschlechtseintrag guthiess. Dazu möchte ich gerne bemerken, dass der Kanton Aargau eher ein konservativ geprägter Kanton ist, was sich, wie üblich in der Schweiz, auch in der politischen Zusammensetzung der entscheidenden Richter*innen widerspiegelt.

Der Bundesrat hielt ausgerechnet kurz vor Weihnachten letztes Jahr ohne wissenschaftlich-statistisches Fundament fest, dass «er» der Ansicht sei, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine Aufhebung des Geschlechtseintrags oder die Einführung eines dritten Geschlechtseintrags seien heute nicht gegeben. Eine solch lapidare Aussage, nachdem er sich 4,5 Jahre Zeit liess, um die beiden nationalrätlichen Postulate zu beantworten, ist nicht nur höchst unprofessionell, sondern auch eine offene Verachtung unserer menschlichen Würde, die eigentlich nach schweizerischer Bundesverfassung bei ALLEN Menschen respektiert werden müsste. Deshalb empfahl die Nationale Ethikkommission dem Bundesrat auch schon vor über zwei Jahren, unsere Existenz anzuerkennen. Egal welche Lösung er dazu wähle – alles sei besser als die heutige Regelung. Denn diese lasse, so die Ethikkommission, unsere fundamentalen Interessen ausser Acht, weil unsere Selbstbestimmung, unsere freie Wahl von Lebensvollzügen und unser Schutz vor Diskriminierung schwer eingeschränkt werden.

Wir werden das Gefühl nicht los, dass der Bundesrat in der alten Zusammensetzung den hängigen Entscheid des Bundesgerichts in Sachen Anerkennung des dritten Geschlechtseintrags direkt beeinflussen wollte.

TGNS bleibt trotz bundesrätlichem Gegenwind am Thema und wird an der angekündigten Anhörung der nationalrätlichen Rechtskommission zum Thema teilnehmen. TGNS ist auch in Kontakt mit der neu gewählten Bundesrätin Baume-Schneider, seit 2023 Vorsteherin des Justizministerium, die in ihrer Rede nach 100 Tagen im Amt versprach, pragmatische Massnahmen zu entwickeln, welche unseren Bedürfnissen als non-binäre Personen entsprechen.

Auch wenn es kurzfristig noch keinen dritten Geschlechtseintrag geben wird, es wird weiter in diese Richtung gehen, dass wir auch die Option erhalten, unsere Geschlechtsidentität jenseits des binären Zwangs offenzulegen und offen zu leben, sodass wir weniger oft gezwungen werden uns selbst zu missgendern, bzw. missgendern zu lassen.

Unsere Forderung nach einer dritten Option des Geschlechtseintrags soll keinesfalls die Errungenschaften des Feminismus verwässern, sondern im Gegenteil an diese anknüpfen und weiterentwickeln. Das Festhalten an einer zwanghaften Einordnung von Menschen in «Mann» oder «Frau» dient nämlich gerade auch als Instrument, eines von beiden Geschlechtern, bisher das «weibliche», abzuwerten. Eine umfassende Geschlechtergleichstellung kann nur dann erreicht werden, wenn es beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt oder im Versicherungswesen nicht mehr so wichtig ist, ob eine Person als männlich oder weiblich eingeordnet wird, weil alle Geschlechter tatsächlich gleichgestellt sind. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, braucht es weiterhin zum Beispiel Statistiken, die diese Diskriminierungen aufzeigen.
Bei statistischen Erhebungen zu Geschlechtsdiskriminierungen fordern wir als non binäre Personen, auch als solche erfasst zu werden, insbesondere wenn es um gesellschaftspolitische Themen geht. Keiner cis Frau wird etwas weggenommen, wenn nebst der Gewalt gegen cis Frauen auch Gewalt gegen uns erhoben und sichtbar gemacht wird! Frauen verlieren auch nichts, wenn zusätzlich zu ihrer politischen Unterrepräsentation das Fehlen von nicht binären Menschen in unseren Parlamenten und Regierungen thematisiert wird! Aber gemeinsam sind wir stärker in unserem Kampf gegen patriarchale Machtverhältnisse.
Wenn hingegen «biologische» Voraussetzungen von Menschen relevant sind, wie dominierende Hormone oder ob jemand Eierstöcke und/oder eine Vulva hat oder Hoden und/oder Penis, dann soll explizit danach gefragt werden, sodass Diskriminierungen in der Medizin und Technik, welche auf körperlich-biologischen Voraussetzungen basieren, weiterhin erfasst werden.

Für uns und unsere Allies ist klar, zumindest die Option der offiziellen Deklaration einer Geschlechtsidentität ausserhalb von «männlich» oder «weiblich» wird kommen – die Frage ist also nicht «ob», sondern «wann».

Was können wir als Betroffene und Allies konkret tun?
Konsequent nach Pronomen der Menschen zu fragen, denen wir im privaten und im beruflichen Kontext begegnen
Keine Geschlechtsidentität aufgrund von äusserlichen Merkmalen annehmen, auch wenn unser Gehirn das gerne automatisch tut, um Energie zu sparen
Diejenigen, welche den CH-Pass und damit in der Schweiz politischen Rechte innehaben, nutzt diese:
Wählt Parteien, welche unsere Anliegen unterstützen
Im Herbst sind Nationalratswahlen: wählt queere und non binäre Personen – ich z.B. werde für die Grünen im Kanton Zürich kandidieren, d.h., wenn ihr in der Stadt Zürich wohnt, könnt ihr mich wählen
Unterstützt Petitionen und andere politische Vorstösse, welche einen dritten Geschlechtseintrag oder die Streichung dessen fordern

Die Unterstützung von Verbündeten, Allies, welche nicht betroffen sind, ist besonders wichtig. Denn wie zu Beginn meiner Rede erwähnt, haben wir nicht immer die Kraft, um diese alltägliche Aufklärungsarbeit zu leisten:
Klärt daher gerne andere darüber auf, warum die rechtliche Anerkennung von non binären und genderfluiden Menschen wichtig ist.
Habt keine Angst, Fehler zu machen. Solange wir merken, dass das Gegenüber sich Mühe gibt, unterstützen wir gerne dabei, inklusive Sprache anzuwenden.
Auch ich als non binäre Person tapse noch oft in die binäre Falle, weil mein Gehirn seit Jahrzehnten darauf trainiert wurde – es geht allen gleich, und es braucht Zeit, Übung und Geduld, wie das Erlernen von allen neuen Fertigkeiten.
Spendet an TGNS, damit die notwendige rechtliche und politische Arbeit von Betroffenen bis zu einem gewissen Punkt auch bezahlt werden kann.
Folgt non binären Menschen auf social media, lest deren Bücher, schaut deren Filme und/oder Serien und besucht deren Performances – und empfehlt sie weiter.

Es gibt uns und uns hat es schon immer gegeben und wie bei allen marginalisierten Gruppen, wissen wir am besten, was wir brauchen. Daher lasst uns weiterhin laut sein und für unsere Anerkennung kämpfen!
We, Enbies exist! Danke!