Medienkritik: «Gredig direkt»

Am 31. März 2022 war die deutsche Autorin Alice Schwarzer bei der SRF Sendung «Gredig direkt» zu Gast, um ihr neues Buch über den angeblichen trans Hype zu bewerben. Auch wenn der Moderator mitunter Anläufe nahm, ihrer Polemik entgegenzusteuern, blieb das Ganze doch sehr frustrierend und irreführend mit vielen Fehlinformationen und unbelegten, unwidersprochenen transfeindlichen Behauptungen Im Folgenden könnt ihr die ausführliche Rückmeldung nachlesen, die wir der Redaktion geschickt haben. Wir halten euch bezüglich Updates und Reaktionen auf dem Laufenden!

Rückmeldung: «Gredig direkt», 31.3.2022

Sehr geehrter Herr Gredig, geehrte Redaktion

Ausgerechnet am Internationalen Tag der Sichtbarmachung von trans Menschen (Transgender Day of Visibility) wurde Alice Schwarzer die Bühne gegeben, um ihre irreführenden, fahrlässigen und gefährlichen Ansichten über trans Menschen, insbesondere junge trans Männer, zu verbreiten. 

Zwar haben wir zur Kenntnis genommen, dass Herr Gredig an einigen Punkten um Einwürfe und Kontextualisierung bemüht war, was wir sehr zu schätzen wissen, vielen Dank dafür. Schlussendlich blieben die zahlreichen unbelegten und unhaltbaren «Statistiken» von Frau Schwarzer jedoch unwiderlegt im Raum stehen, was es für das Publikum unmöglich macht, sich dazu eine unabhängige Meinung zu bilden.

Im Folgenden werden wir die Beanstandungen im Einzelnen darlegen. Wir haben kein Interesse daran, die Gesinnungen oder Intentionen von Einzelpersonen anzuprangern, sondern möchten auf die Konsequenzen und Auswirkungen von Handlungen und Sprechakten verweisen und bitten höflichst daher darum, das bei der Lektüre im Hinterkopf zu behalten.

Ob sich Frau Schwarzer als Unterstützerin von trans Personen sieht, spielt keine Rolle für die Auswirkungen, die ihre Worte und Handlungen haben. Auch die persönliche Haltung von Herrn Gredig ist nicht Gegenstand dieser Beanstandung.

Es geht uns allein um die Gefahr, die von der fahrlässigen Verbreitung von Falschinformationen rund um eine stark prekarisierte Minderheit ausgeht. 

Wir möchten Ihnen das Ausmass solcher Beiträge vor Augen zu führen, in der Hoffnung, dass dies bei künftigen Vorhaben ein Umdenken bewirken könnte und Sie auch die Richtigstellung einiger Fehlinformationen erwägen.

  1. Statistische Behauptungen

Frau Schwarzer behauptet nicht nur einen trans Hype, sondern illustriert diese Behauptung im Verlauf der Sendung mit diversen, widersprüchlichen, teils irrelevanten, teils unbelegten Zahlen. Eine Erhebung aus Deutschland von 1991 ist keinerlei Anhaltspunkt für einen Hype (wie auch immer ein solcher definiert sein mag). Es versteht sich von selbst, dass offene Selbstdeklaration der Zugehörigkeit einer gefährdeten Minderheit im Zuge einer Befragung von vielen Faktoren abhängt. Die Behauptung, die Zahlen hätten sich seit 1991 «verviertausendfacht» ist dementsprechend absurd und skandalisierend. Die Aussagen, es gäbe mittlerweile in jeder Klasse «2-3» respektive «4-5 Mädchen» (gemeint sind trans Jungen) ist unhaltbar. Die Behauptungen, es gäbe 10-mal mehr trans Jungen als trans Mädchen, während der Verhältnis früher genau umgekehrt gewesen wäre, ist schlicht nicht belegbar und Teil einer Panikmache, die das Argument von Frau Schwarzer bestätigen soll, dass trans Rechte Mädchen und Frauen schaden.

Diese Aussagen stellt Frau Schwarzer wiederholt der mantrahaft wiederholten Aussagen, «wahre Transsexuelle» wären eine verschwindend kleine Minderheit. Der einzigen expliziten Widerspruch Herrn Gredigs, früh in der Sendung, untermauert durch das Argument, es gäbe auch Anhaltspunkte, dass 1 von 200 Personen trans seien, wischt Frau Schwarzer vom Tisch mit der Aussagen, man wolle sich nicht an Statistiken aufhängen, was Herr Gredig unmittelbar bestätigt und seinem Gast für den Rest der Sendung sämtliche (widersprüchliche, inkonsistente) Behauptungen über angebliche Zahlen unkommentiert durchgehen lässt.

Darunter fallen des Weiteren wiederholte Behauptungen, wie etwa, dass sich «die meisten» Fällen von trans Menschen als keine «wahre Transsexualität» rausstellen würden, wofür es keinerlei Beleg gibt. 

Auch wenn es mitunter Fluktuationen geben kann, ob mehr trans Jungen oder trans Mädchen etwa Beratungsangebote aufsuchen, klaffen bei der tatsächlichen Transition die Zahlen kaum auseinander. Insgesamt muss noch dazu beachtet werden, dass trans Mädchen stärker Gewalt, Obdachlosigkeit und Anfeindungen erwarten müssen als trans Jungen und daher mehr vor einem Coming-out zu befürchten haben. Auch weltweit gibt es keine Anhaltspunkte für eine Übervertretung von trans Jungen; sie sind vielmehr aktuell dabei, gleichzuziehen, da trans Frauen und trans Mädchen länger im medialen Rampenlicht standen und trans Jungen erst in den letzten Jahren im Mainstream Aufmerksamkeit erhalten.

Ausführliche statistische Auswertung für DE: 

Beispielstudie für die USA:

https://www.liebertpub.com/doi/10.1089/trgh.2019.0070
  1. Unwissenschaftlichkeit

Das inkonsequente und intransparente Vorgehen mit statistischen Behauptungen wird durch weitere unwissenschaftliche Behauptungen auf die Spitze getrieben. Nicht nur, dass Frau Schwarzer ohne Einwand behaupten darf, dass es keinerlei Studien über die Langzeitfolgen von Hormonbehandlungen und geschlechtsangleichenden Eingriffen gäbe, was sehr leicht zu widerlegen ist, sie darf ebenfalls ungestraft in den Raum stellen, ob Konversionstherapie nicht eine wünschenswerte Alternative wäre («Ist das untherapierbar?»), eine absolut skandalöse Behauptung, die wohl kaum in Bezug auf Homosexualität auf SRF geduldet würde. 

Auch anerkannte Prozeduren als den Versuch «mit dem Messer zu heilen» zu bezeichnen, ist ein Affront nicht nur für trans Jungen, sondern für viele andere Personen, darunter unzählige cis Frauen, die aufgrund verschiedener Gründe eine Mastektomie in Anspruch nehmen.

Des Weiteren stellt Frau Schwarzer in den Raum, es könne ja gar keine Studien zum Thema geben, was ihren zahlreichen statistischen Aussagen scharf widerspricht und schlicht und ergreifend nicht wahr ist. 

Hier eine Übersicht über entsprechende Studien:

  1. Falschaussagen über Schweizer Politik

Ebenfalls in den Raum gestellt wurden diverse unzutreffende Aussagen über Schweizer Politik im Zusammenhang mit Gleichstellung und Personenstandsänderung. Wiederholt stellt Frau Schwarzer in den Raum, in der Schweiz hätte es keine Diskussion, keine Abwägung über die Einführung der erleichterten Personenstandsänderung gegeben («Hat man diskutiert im Land darüber, nein, bestimmt nicht.»). Dass sie noch kurz zuvor Herrn Gredig bzgl. der genauen Gebühren der Personenstandsänderung korrigiert, entsteht der fälschliche Eindruck, dass sie sehr vertraut mit der Lage sei. Wie sich leicht anhand der medialen Berichterstattung nachverfolgen lässt und wir aufgrund unserer Begleitung des Prozesses wissen, gab es sehr wohl langwierige Diskussionen und Abwägungen und auch Widersprüche, wie auch häufig auf allen SRG Kanälen berichtet wurde.

Des Weiteren behauptet Frau Schwarzer, in Basel sei die Gleichstellungsstelle für Frauen abgeschafft worden, eine mehr als befremdliche Missrepräsentation des grossen Gleichstellungsprogrammes von Basel. Auch dies bleibt unkorrigiert.

  1. Verharmlosung von Gewalt gegen trans Person bzw. trans Frauen

Laut Frau Schwarzer führt die «Aufweichung der Geschlechterkategorien» durch die Existenz von trans Personen dazu, dass geschlechterspezifische Gewalt nicht mehr korrekt erfasst und bekämpft werden könne. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte, ganz im Gegenteil: Trans Menschen sind überproportional häufig von häuslicher Gewalt, sexueller Gewalt und Hassverbrechen betroffen und besonders auf die Bekämpfung von geschlechterbasierte Gewalt angewiesen. (https://williamsinstitute.law.ucla.edu/press/ncvs-trans-press-release/)

Trans Frauen sind also statistsch gesehen stärker von Gewalt betroffen als cis Frauen, meist mit cis männlicher Täterschaft. Trans Frauen statistisch als Männer zu führen, verschleiert Femizide und geschlechterbasierte misogyne Gewalt und sorgt dafür, dass diese Frauen keinen Zugang zu Frauenhäusern oder anderen Ressourcen haben https://www.stonewall.org.uk/system/files/stonewall_and_nfpsynergy_report.pdf

Trans Frauen sind Frauen. Daher haben sie ein intrinsisches Interesse daran, dass Frauen geschützt werden. Das Gegenteil zu behaupten ist zynisch und falsch.

  1. Leugnung von Intergeschlechtlichkeit und Nichtbinarität

Die wiederholten Verweise auf die Natürlichkeit und Binarität vom körperlichen Geschlecht negieren die Existenz von intergeschlechtlichen Personen, die noch heute in der Schweiz medizinisch grundlose operative Eingriffe im Kleinkindalter erfahren, um sich künstlich und unethischerweise in die Binarität des Geschlechts einzupassen. Die eindeutige Binarität von biologischem Geschlecht zu behaupten, in einem angeblichen kritischen Blick auf Geschlecht, ist irreführend.

  1. Inkorrekte und abwertende Aussagen über trans Identität

Da Frau Schwarzers Ansichten augenscheinlich Grund der Einladung waren, war nicht damit zu rechnen, ein Gespräch ohne transfeindliche Topoi und Phrasen zu führen. (Wiederum der Hinweis darauf, dass die Selbsteinschätzung von Frau Schwarzer als Unterstützerin von trans Personen kein Gegenstand dieser Beanstandung ist und keine Entschuldigung oder Erklärung darstellt. Persönliche Positionierung ist kein Freischein für Falschaussagen oder Diskriminierung.)  Im Folgenden eine summarische Zusammenfassung der irreführenden Aussagen Frau Schwarzers über trans Personen. 

  • Kontinuierliches, unwidersprochenes Misgendering aller erwähnter trans Personen, besonders im Bezug auf die «4-5 Mädchen, die Jungen sein wollen», aber auch im Bezug auf zahlreiche Individuen, aus Frau Schwarzers Buch oder Umfeld. 
  • Gleichsetzung von Rollenklischées und Geschlechtsidentität: Hobbies und sexuelle Orientierung sind nicht «Grund» oder Anlass von trans Identitäten. Auch wenn trans Menschen häufig unter dem Druck stehen, ihr Geschlecht stereotyp zu performen, um Unterstützung zu erhalten und sicher zu sein, heisst das nicht, dass sie aufgrund von Präferenzen für Fussball transitionieren oder weniger «frei» und individuell ihre Geschlechtsidentität leben als cis Personen. 
  • Pathologisierung von trans Identität: Nur, wer wirklich leidet und «alles probiert hat», kann in Frau Schwarzers Augen wirklich trans sein. Eine gefährliche und grausame Ansicht. Nicht zuletzt aufgrund der hohen Suizidalität von trans Menschen, denen der Zugang zu einer sicheren Transitionen und einem Coming-out verwehrt bleibt. Die Hinweise von Herrn Gredig an dieser Stelle, dass der Leidensdruck durch die Transition gelindert werde und ein glückliches Leben erlauben, sind ihm hoch anzurechnen, gehen allerdings im gesamten Gesprächsverlauf mehrheitlich unter.

Abschliessend möchten wir darauf hinweisen, dass der Fokus von Seiten Herrn Gredig auf Frau Schwarzers Befindlichkeit bezüglich ihrer Kritik von trans Personen sehr stossend ist. 

Ob sie sich in ihren Gefühlen gekränkt fühlt von Leuten, denen sie therapeutische, medizinische und gesellschaftliche Unterstützung verweigert sehen möchte, weil sie ihrer (unqualifizierten) Meinung nach keine «wahren Transsexuellen» sind, ist absolut irrelevant im Vergleich zu der Gefahr, Diskriminierung, Vereinsamung, Verzweiflung die trans Menschen, besonders trans Kinder aufgrund solcher Aufwiegelung tagtäglich ertragen müssen.

Das 15-jährige trans Mädchen, das vor rund einer Woche in Herne brutal verprügelt wurde, hat Schutz und Aufmerksamkeit und Verständnis und Unterstützung verdient. 

Der junge trans Mann aus Mels, dessen Vater ihn mit dem Tod gedroht hat, weil er sich für die Transition entscheiden wollte, musste vor Gericht hören, seine Entscheidung hätte ja verständlicherweise für Furor gesorgt. 

Weltweit ist der Druck gross, die noch immer karge Infrastruktur zur Unterstützung von trans Kinder wieder abzureissen. In den USA, im Vereinigten Königreich und in Deutschland sehen wir schon die wüsteren Auswüchse dieses Kampfes, der uns jederzeit auch erfassen kann. Trans Menschen haben keine Schutz vor Hassverbrechen oder Konversionstherapien. Sie sind überdurchschnittlich häufig von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. 

Es ist keine neutrale Handlung, diese prominenten, lauten Stimmen, die trans Kinder als verwirrt bezeichnen, Transition verteufeln und Misstrauen schüren, eine Plattform zu bieten und ein solches Buch zu bewerben. Es geht um die Leben, die Sicherheit und das Glück von vielen Kindern und auch Erwachsenen.

Für Sie mag es ein lebhafter Meinungsaustausch sein oder ein Gedankenspiel. Oder nur ein Beitrag zum Thema unter vielen. Aber solche Beiträge haben eine Wirkung. Auf verängstigte Kinder. Auf skeptische Eltern. Auch Schulen und Ämter, die Ressourcen bereitstellen oder verweigern können. 

Wir bitten Sie darum, diese gesellschaftlichen Realitäten im Hinterkopf zu behalten, wenn Sie sich künftig mit diesem Thema befassen und auch eine Richtigstellung einzelner Punkte in Erwägung zu ziehen.

Für Rückfragen stehen wir gerne zur Verfügung.

Gezeichnet,

Janna Kraus (im Auftrag von TGNS)