
2021 ist ein Jahr mit zwei besonderen Ausstellungen, die ein Muss für die trans und queere Community sind. Schon letztes Jahr eröffnete im Stapferhaus Lenzburg die Ausstellung «Geschlecht – jetzt entdecken», musste aber wie alle Museen bald wieder schliessen. Inzwischen ist die Ausstellung für Besuchende wieder zugänglich. Und seit wenigen Tagen hat auch das Naturhistorische Museum in Bern seine Türen zur Sonderausstellung «Queer – Vielfalt ist unsere Natur» geöffnet.
Beide Ausstellungen fragen sich: Wie entsteht Geschlecht? Was macht uns zu Frauen, Männern oder anderen Geschlechtern? Beide Ausstellungen sind auffällig farbenfroh aufgebaut und spiegeln so die geschlechtliche Vielfalt auch in der Gestaltung wider. Und in Bern wie in Lenzburg versucht man, die aktuelle gesellschaftliche Debatte zu Gender und Geschlecht(ern) auszuloten.
Dennoch ist die Schnittmenge zwischen beiden Ausstellungen nicht so gross, wie man zunächst vermuten könnte. Die Berner Ausstellung wirft sich, wie von einem naturhistorischen Museum zu erwarten, in einem umfangreichen ersten Teil auf die vielen «queeren» Phänomene der Natur. Diese sind schon erstaunlich genug, zeigen sie doch schnell, dass Geschlecht keineswegs binär ist, und auch Fortpflanzung viele unterschiedliche Strategien kennt: von der sog. Jungfernzeugung bis zu Wesen mit tausenden von Geschlechtern. Und gleichgeschlechtliches Verhalten ist bei mindestens 1500 Tierarten gang und gäbe. Selbst gestandene Queer-Aktivist:innen kommen da ins Staunen! Auch beim Menschen wird das breite Spektrum zwischen weiblich und männlich ausgebreitet und mit vielen Mythen «typisch» männlichen oder weiblichen Verhaltens aus naturwissenschaftlicher Sicht aufgeräumt. Besonders erfreulich ist, dass auch die unzähligen Varianten, die die Geschlechtsentwicklung des Menschen nehmen kann, erläutert werden. Das queere Leben beim Menschen wird unter den Schwerpunkten Biographien, Sprache, Kreativität und Zukunft ausgebreitet und man wird immer wieder angeregt, die eigene Position zu reflektieren.
Im Stapferhaus steht eindeutig der Mensch im Mittelpunkt, unter der Prämisse, dass unser Geschlecht und vor allem die Geschlechterrollen uns und unsere Handlungen, bewusst und unbewusst, ständig beeinflussen. Die sich anschliessenden gesellschaftlichen Fragen, wie es dazu kommt, was daran zu ändern ist, wie es um die Gleichstellung früher und heute steht, bilden die Schwerpunkte der Ausstellung. Wir lauschen einem Gespräch zwischen Vulva und Penis oder erkunden den wechselnden kulturellen Kontext vieler Geschlechterklischees. Wir erfahren viele historische Fakten zu unseren Geschlechtern, vor allem aber anregende Informationen zu heutigen Diskussion – über Politik, Erziehung, Sex bis hin zu einzelnen Gegenständen, die eine wichtige Rolle im Leben einzelner Personen spielen.
Beide Ausstellungen sind anregend, amüsant und horizonterweiternd. Beide sind informativ und dabei zugleich interaktiv und spielerisch – sei es, dass im Stapferhaus die Besuchenden z.B. ihre Fingernägel in allen Regenbogenfarben anmalen können oder im Naturhistorischen Museum ein queeres Sprachquiz gespielt werden kann. Bei beiden Ausstellungen sind queere Menschen im Vorfeld einbezogen werden und viele queere Statements sind in den Ausstellungsräumen zu sehen und zu hören. Die Ausstellungen werden jeweils durch ein umfangreiches Rahmenprogramm ergänzt und erweitert.
Das Fazit: unbedingt anschauen. Und natürlich beide Ausstellungen!
Stapferhaus Lenzburg: bis 31. Oktober 2021
Naturhistorisches Museum Bern: bis 10. April 2022
